Dinslakener Geschichte

 


Die Dinslakener behaupten ihr Wahlrecht auf zwei Bürgermeister
 

Im Archiv der Stadt Dinslaken befinden sich unter alten handschriftlichen Urkunden, Dokumenten, Schrittstücken und Stadtbüchern zwei Schöffenprotokollbücher aus den Jahren 1681-1708 bzw. 1695-1707 die uns ein umfassendes, anschauIiches Bild vom Leben und Treiben in unserer Stadt im Anfang des 18. Jahrhunderts geben und einen Einblick in Art und Funktionen der damaligen Stadtverwaltung vermitteln. Neben den sich stets wiederholenden Eintragungen über die jährliche Magistratswahl, schlechte Zeiten, Anleihen der Stadt bei wohlhabenden Bürgern zur Deckung anderer Schulden und über die Amtshandlungen des Bürgermeisters und der Schöffen, die bei Anleihen, Ausstellung von Schuldscheinen, Niederlegungen des letzten WiIIens, Testamentseröffnungen, Verkäufen und Überschreibungen zugegen waren und deren Richtigkeit bestätigten, erhalten wir aus den Schöffenbüchern Kenntnis von einem interessanten Vorfall bei der Dinslakener Magistratswahl im Jahre 1702. Zum besseren Verständnis dieses Ereignisses müssen wir vorher einen Blick auf das Dinslakener Wahlrecht und seine geschichtliche Entwicklung werfen.

AIs Graf Dietrich VII. von Kleve im Jahre 1273 Dinslaken zur Stadt mit Mauerrecht erhob, war von der Stadt nicht viel mehr als die Burg vorhanden. Es galt deshalb, Siedler, Handwerker, Bauern und Kaufleute aus der Umgebung heranzuziehen. Um dies möglichst schnell zu erreichen, wurden der neu gegründeten Stadt besondere Privilegien verliehen, die in der Dinslakener Stadterhebungsurkunde festgelegt sind. Unter diesen Vorrechten wird als besondere Vergünstigung das Recht der freien Magistrats- und Richterwahl genannt, das einen bedeutenden Vorzug vor anderen Städten darstellte, in denen die Landesregierung den Magistrat ernannte. Durch das so gewonnene hohe Maß bürgerlicher Freiheit wurde viel Volk herangelockt, so dass Dinslaken bald über seine Stadtmauern hinauswuchs und an 'der Straße nach Hiesfeld ein neuer Stadtteil, die Neustadt, entstand. Die Bürger der Neustadt nahmen, um sich den Alteingesessenen der Altstadt gegenüber zu behaupten, die der Stadt verliehenen Privilegien auch für sich in Anspruch und wählten ihren eigenen Verwaltungskörper, bestehend aus einem Bürgermeister, vier Ratsmännern und sechs Gemeinsleuten. Die Altstadt dagegen wurde von einem Bürgermeister und. sieben Schöffen verwaltet, die jeweils am Neujahrstage von den sechs Gemeinsleuten der Altstadt, einer Vertretung der Bürgerschaft, gewählt wurden. So amtierten in der kleinen Stadt Dinslaken jahrhundertelang zwei Bürgermeister nebeneinander, und es ist deshalb leicht begreiflich, dass Alt- und Neustadt sich hartnäckig sträubten, als der König (Friedrjch I. von Peußen) bei der Wahl für das Jahr 1702 in das Dinslakener Stadtrecht eingriff.

Über den Eingriff berichten uns die Schöffenbücher folgendes: Am letzten Dezember des Jahres 1701 wurde dem Magistrat und der ganzen Gemeinde durch den Gerichtsboten Willem Waldtneel von dem Landdrosten Herrn von Quadt von Wickrath und dem Richter Dr. Georg Otto Kumpsthoff im Auftrage des Königs unter Androhung einer Strafe von 50 Goldgulden befohlen, bei der für den folgenden Tag bevorstehenden Wahl e i n e n Magistrat für Alt- und Neustadt zu wählen. Der Befehl lautete wörtlich:

,,Nach dem Wir die aus der Königl. Regierungh zu Cleve Sub dato den 21. Jan. 1701 uns auffgetragene allergnädigste Commission wegen Combinirungh der hiesigen beyden Rahtswahlen citatis citandis publiciret, undt denen dahmahls gegenwertig gewesenen beyden Bürgermeistern, Scheffen undt Raht, mündtlich aufferlegt Sich darnach gehorsambst zu achten, undt zu dem ende Copy gehen Laßen. So wirdt derselben hiermit nicht allein inhäriret, Sondern auch nahmens Sr. Königl. Majest. in Preußen Burgermeister, Scheffen und Raht So woll der Alten aIß Neuen Stadt gemeinsfreunden, undt gesambten Burgershaft bey straff von 50 goltgl. anbefohlen, bey nunmehr negstbevorstehenden wahlstag die Sache undt Wahl dergestaldt einzurichten, undt anzulegen daß aus den capabelisten Bürgern der Alt und Neuwen Stadt Dinslacken ein gnugsahmer Vollkommener Magistratus in einen Burgmstrn. Scheffen und Raht, auch nötigen gemeinsleuthen bestehendt, nach der qualität formiret und erwehlet, oder in unverhofftem Contraventionsfall die Wahl für Null undt nichtig erklähret, undt dan dabey inskünftig zu ersparnis der großen überflüssigen, undt der Stadt schädlichen Kosten alle Jahr continuirt werden möge, welches der gerichtsbotte Willem Waldtneel dem itzo bey vacirender Burgermeistersstelle altistem Scheffen der Alten, undt Burgermeister der Neuwen Stadt ad Communicandum intimiren undt darab hierunter attestiren solle.

Dinslacken, den 29. December 1701."

 Wie aus dem Befehl hervorgeht, verursachten die getrennten Verwaltungen der Stadt Dinsläken ,,überflüßige und schädtliche" Kosten, die die Regierung durch ihren Eingriff einzusparen hoffte. Die Dinslakener ließen sich jedoch nicht so leicht unterkriegen und protestierten gegen den königlichen Beschluss, weil ,,unter anderen dieser Stadt Privilegien der Stadt von uhraltershero einen freyen wahl so woII Alt- alß Neuwer Stadt von den Graffen und Hertzogen zu Cleve concediret undt von denen folgenden Hertzorgen undt Curfürsten, auch von Sr. Königl. Mäjestät in Preußen unserem allergnädigsten Herrn in anno 1689 Confirmiret worden.“

So versammelten sich ungeachtet des königlichen Befehls am 1. Januar 1702 im Rathaus allein sechs Gemeinsleute aus der Altstadt, um ihren Magistrat zu wählen.

Es waren:

Daniel Schloodt
Johan Hagdorn
Johannes Devens
Jacob Hövellman
Henridr Plöniß
Abraham Grube.

Erneut befahlen ihnen der Richter Kumpsthoff und der Amtsschreiber Eltzmann unter Androhung einer Strafe von 50 Goldgulden, drei Gemeinsleute der Neustadt zu sich zu rufen und dann für Alt- und Neustadt einen Magistrat zu wählen, der aus einem Bürgermeister, sieben Schöffen und vier Ratsmännern bestehen sollte. Die Gemeinsleute berichteten dem Magistrat über das Vorgefallene. Dieser sah ein, dass eine weitere Verweigerung des königlichen Befehls vorerst zwecklos wäre, und so ging die Wahl für das Jahr 1702 „entlich sub expressa et solemnissima protestatione“ auf die gewünschte Weise vor sich. Es wurde jedoch in dem im Schöffenbuch schriftlich niedergelegten Protest beschlossen, „weilen nunmahlen darüber von Ihro Königl. Majest. Regierungh zu Cleve gehöret were, alß wolle nach umbgangh der Christferien ahn derselben allerunterthänigst berichten"; d. h., Alt- und Neustadt waren, wenn sie sich auch fügten, keinesfails bereit, auf ihr altes Wahlrecht zu verzichten. Die Wahl selbst nahm nun folgenden Verlauf:

Die genannten Gemeinsleute der Altstadt sowie aus der Neustadt Jacobus Odendahl, Berndt Dapper und Peter Hagdorns legten den „gewöhnlichen Gemeinsmänneraydt" ab, wiesen Daniel Schloodt aus, an dessen Stelle sie Diethrich Schlun beriefen, und wählten zum

Bürgermeister: Conradt Bodden

zu Schöffen:
Johan Dercksen
Johannes Storck
H. Slling
Rudolph Hagdorn
Luif Venbruch
Daniel Schloodt
Willem Luggen

zu Ratsmännern:
Br. Hagedorn
Berndt SdröIl
J. von Raitngen
Willem von der Weidtmühlen.

Leider berichten uns die Schöffenbücher nicht, auf welche Weise der Magistrat nach der Wahl sein Recht bei der Regierung dennoch durchsetzte und die Erlaubnis zur Durchführung getrennter Wahlen in Alt- und Neustadt erhielt.

Wir erfahren lediglich die Tatsache, dass „der Magistrat von seiner Königl. Majest. Regierungh zu Cleve bey ihren alten herbrachten recht undt gewohnheit zu wehlen manteniret" und dass die Neustadt allein ihre Wahl fortsetzte, wobei Johannes Storck zum Bürgermeister gewählt wurde. In der Altstadt blieb es für das Jahr 1702 bei der bereits vorgenommenen Wahl. Da Johannes Storck die Schöffenstelle nicht annahm, gab es in der Altstadt in diesem Jahr nur sechs Schöffen. Auch in den folgenden Jahren wählten Alt- und Neustadt wieder getrennt ihren Magistrat. Die Dinslakener hatten es also verstanden, den königlichen Eingriff in ihr Stadtrecht geschickt abzuwehren, und die von der Regierung gewünschte Änderung in der Verwaltung der Stadt trat nicht ein.

Um den Erfolg, den Dinslaken auf diese Weise erzielte, voll würdigen zu können, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass sich der beschriebene Vorfall im Anfang des 18. Jahrhunderts ereignete, zu einer Zett, da in Europa die absolute Regierungsform herrschte. In Deutschland nahmen jedoch die klevischen Städte - därunter auch Dinslaken - auf Grund des ihnen bei ihrer Gründung durch Privilegien verliehenen hohen Maßes städtischer Freiheit selbst im preußischen Beamtenstaat eine Sonderstellung ein. Sie hatten ihre Rechte jahrhundertelang allen Landesherren gegenüber zu verteidigen gewusst und waren deshalb im Vorteil vor den Städten anderer Provinzen, denen erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die vom Freiherrn vom Stein geschaffene Städteordnung die Selbstverwaltung gewährt wurde. So sehen wir das kleine Dinslaken bei dem königlichen Eingriff in das Stadtrecht bereits bahnbrechend und wegweisend für ein neues, von den Fesseln des Absolutismus freies Zeitalter.

lnge Kresse, Heimatkalender 1953 Kreis Dinslaken S. 49-51